Sharing –
Der Mensch hat früh gelernt, zu teilen – aus Notwendigkeit oder aus Empathie. Die digitale Allmende ist deshalb keine technologische, sondern tatsächlich eine spirituelle Revolution, die sich heute unter den Namen Open Source und Public Domain verbirgt. Ihre Grundidee wird bereits im Johannesevangelium (Joh 6,1–13) erstaunlich präzise formuliert: Ein Kind bringt fünf Brote und zwei Fische – und aus der Geste des Gebens entsteht Fülle.
„Gebt ihr ihnen zu essen“ – mit diesem Satz Jesu wird ein schlichtes Tun kollektiv. Es verbreitet sich wie ein Lauffeuer, wir sagen heute “es geht viral”.
Was dort geschieht, ist die früheste Beschreibung des Open-Source-Prinzips: Scheinbar begrenzte Ressourcen werden durch Kooperation, Vertrauen und Gemeinschaftsgeist vervielfacht. Nicht Besitz, sondern Teilhabe – Sharing – erzeugt den Überfluss. Mit der Anweisung „Sammelt die übriggebliebenen Brocken, damit nichts umkomme“ (Joh 6,12) wird eine zweite Regel hinzugefügt: Nachhaltige Wiederverwendung.
Überträgt man diese Muster in die Gegenwart, zeigt sich eine die Jahrtausende überbrückende Kontinuität. Die digitalen Werkzeuge, auf denen unser privater wie beruflicher Informationsalltag beruht – Linux, Firefox, WordPress, Wikipedia, OpenStreetMap, Let’s Encrypt, die Khan Academy – beruhen auf ein- und derselben Haltung: dem freiwilligen Teilen von Wissen und Code, der Offenlegung von Strukturen und der kollektiven Pflege eines gemeinsamen Gutes.
Diese Offenheit ist keine moralische Geste, sondern eine Form kultureller oder sozialer Intelligenz, ohne die die Menschheit nicht überleben wird. Sie verwandelt Knappheit in Fülle, weil sie Information als nicht-verbrauchbare Ressource begreift. Wer teilt, verliert nichts – er gewinnt an Reichweite, Wahrhaftigkeit und Akzeptanz.
Mit dem Aufkommen der sogenannten “Künstlichen Intelligenz” scheint sich diesem Prinzip eine neue Dimension zu eröffnen. Treffender finde ich den Begriff „Algorithmische Intelligenz“: Offene Sprachmodelle, frei verfügbare Datensätze und kollaborative Lernplattformen helfen Bildung, Kreativität, soziales und technisches Wissen weltweit zugänglicher zu machen. Die globale Bildungsrevolution ist nicht mehr aufzuhalten. Die Kluft zwischen Experten und Lernenden, zwischen Wissenden und Suchenden, beginnt sich zu schließen. Jeder kann in kurzer Zeit Kompetenzen erwerben, die früher unvorstellbar waren. Elitäres Herrschaftswissen ist nicht mehr aufrecht zu erhalten.
Der Himmel auf Erden? Keineswegs.
Denn spirituelle Wachsamkeit ist geboten. Die alten Machtstrukturen haben längst diese neuen Möglichkeiten und Wirklichkeiten unterwandert und versuchen, sie für ihre Zwecke zu instrumentalisieren. Damit stehen wir heute vor demselben brandgefährlichen Dilemma wie einst Robert Oppenheimer und sein Manhattan-Projekt: Zwischen Befähigung und Missbrauch, zwischen scheinbar wertfreiem Erkenntnisdrang und Verantwortung, zwischen Mut und Zweifel.